Eine Welt ohne Klingeltöne

Ich sitze hier in meinem alten Lehnsessel, das Fenster ist einen Spalt geöffnet, und der Sommerwind trägt den Duft von blühendem Jasmin ins Zimmer. Es ist still. Eine dieser kostbaren Stillen, die man nur hört, wenn man alt genug ist, um sie zu schätzen. Früher – als ich noch jung war und das Leben lauter – da war diese Art von Stille selten. Heute ist sie fast selbstverständlich geworden. Die Welt ist stiller geworden. Vor allem: keine Klingeltöne mehr.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als alles ständig irgendwo klingelte. In den 90ern, da war es der schrille Nokia-Ton, der plötzlich aus Handtaschen, Hosentaschen oder vom Küchentisch plärrte. Dann kamen die Polyphonen, dann die selbstgemachten Klingeltöne – Lieblingslieder, Tiergeräusche, albernes Zeug. Manche Leute liefen herum, und ihre Telefone spielten Beethoven oder bellten wie Hunde. Es war ein Lärm. Überall. Bus, Bahn, Wartezimmer. Und wehe, man vergaß, das Ding auf lautlos zu stellen – dann war man der Buhmann.

Ich habe das alles mitgemacht. Natürlich. Ich war nie besonders technikbegeistert, aber ich war neugierig genug, um mit der Zeit zu gehen. Mein erstes Handy hatte ich mit fast sechzig – ein Geschenk meiner Tochter, „damit wir dich immer erreichen können“. Ich habe es gehasst. Es klingelte zu jeder Tageszeit. Meistens, wenn ich gerade am Kochen war oder draußen im Garten meine Rosen geschnitten habe. Oder wenn ich eingeschlafen war beim Fernsehkrimi. Man wurde ständig herausgerissen.

Und jetzt? Jetzt ruft niemand mehr an. Ich meine das nicht traurig. Es ist einfach so. Die Menschen schreiben. Sie schicken Sprachnachrichten. Sie tippen. Sie schauen sich Nachrichten an, Bilder, Videos – und das alles, ohne dass irgendetwas klingelt. Man merkt es kaum, aber das kleine „Bling“ der ersten Smartphones ist auch fast verschwunden. Heute vibriert es höchstens. Und selbst das nicht mehr oft.

Ich frage mich manchmal, ob die Leute weniger sagen, weil sie weniger hören. Ein Klingelton war früher wie ein kleines Ereignis. Man wusste: Aha! Jemand will etwas von mir. Ein Moment der Verbindung. Heute ist es oft nur eine stumme Nachricht in einer App zwischen tausend anderen. Schnell gesehen, schnell vergessen.

Aber vielleicht ist das der Lauf der Dinge. Wir Menschen sind Lärm gewohnt, aber wir sehnen uns nach Ruhe. Vielleicht haben wir all das Geklingel, Gepiepse und Gedudel auch gebraucht, um irgendwann wieder den Wert der Stille zu verstehen. Ich weiß nur: Diese Stille, in der ich jetzt lebe, sie hat etwas Tröstliches. Und wenn mein Telefon doch einmal klingelt – so richtig, mit Ton und allem – dann schrecke ich fast zusammen. Es klingt fremd. Wie ein Echo aus einer anderen Zeit.

Also sitze ich hier. Mit meiner Tasse Tee, dem Geruch von Sommer in der Nase, und kein einziges Telefon stört den Frieden. Eine Welt ohne Klingeltöne – ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal erleben und genießen würde.

Aber so ist das wohl: Irgendwann wird der Lärm leiser, und das Leben beginnt zu flüstern. Und man merkt, dass das genau richtig ist.

Posted in Default Category 9 hours, 43 minutes ago
Comments (0)
No login
gif
color_lens
Login or register to post your comment